Klimaproteste und Störung von Betrieben

Das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart vom 16. Februar 2024 (Az.: 1 ORs 25 Ss 1/23) beschäftigt sich mit der strafrechtlichen Bewertung von Protestaktionen, die von Klimaaktivisten durchgeführt wurden. Die Entscheidung umfasst wesentliche Aspekte der Nötigung, Mittäterschaft, Verwerflichkeit von Straßensperren und die Auslegung des Hausfriedensbruchs.

Hintergrund der Entscheidung

Die Angeklagte, eine junge Umweltaktivistin, beteiligte sich an mehreren Aktionen, die darauf abzielten, den Betrieb von Kieswerken zu stören und auf Umweltprobleme aufmerksam zu machen. Dabei wurden unter anderem Straßen blockiert, indem Seile über die Fahrbahnen gespannt wurden, an denen Hängematten befestigt waren. Diese Aktionen führten zu erheblichen Beeinträchtigungen für die betroffenen Fahrer und Betriebe.

Kernaussagen des Urteils

  1. Nötigung durch Straßensperren:
    Das OLG Stuttgart bestätigt die Rechtsprechung, wonach eine Nötigung mit Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB vorliegt, wenn der durch das Blockieren einer Straße ausgeübte Zwang sich in physische Hindernisse umsetzt. Dies geschieht beispielsweise, wenn die ersten Fahrzeuge in einem Stau die nachfolgenden blockieren, was gezielt als Mittel eingesetzt wird. Diese sogenannte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs bleibt weiterhin relevant und wird als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen.
  2. Mittäterschaft bei gemeinschaftlichen Aktionen:
    Das Gericht legt dar, dass bei einer gemeinschaftlich geplanten Blockadeaktion jeder Beteiligte für die Handlungen seiner Mitstreiter verantwortlich ist. Wenn das Blockieren mehrerer Straßen einem gemeinsamen Tatplan entspricht, muss sich jeder Mittäter die durch das Handeln der anderen Mitstreiter verursachten Folgen zurechnen lassen. Die Angeklagte war daher auch für die Auswirkungen der Blockaden verantwortlich, an denen sie nicht direkt beteiligt war.
  3. Verwerflichkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB:
    Die Beurteilung der Verwerflichkeit einer Nötigung erfordert eine sorgfältige Abwägung aller Umstände des Einzelfalls. Das OLG betont, dass eine Handlung auch ohne eine konkrete Gefährdung Dritter verwerflich sein kann. Dabei wird deutlich gemacht, dass die Grenzen des Rechts auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG nicht überschritten werden dürfen, wenn dadurch die Rechte anderer erheblich beeinträchtigt werden.
  4. Hausfriedensbruch auf einem Flachdach:
    Schließlich wurde klargestellt, dass das Flachdach einer Mehrzweckhalle als befriedetes Besitztum im Sinne des § 123 Abs. 1 StGB anzusehen ist, wenn es ohne Aufstiegshilfe nicht zugänglich ist. Dies bedeutet, dass das unbefugte Betreten dieses Daches einen Hausfriedensbruch darstellt.

Wichtige Aussagen der Entscheidung

Nötigung mit Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB

  • Kernaussage: Eine Nötigung mit Gewalt liegt vor, wenn die von den Aktivisten errichteten Straßensperren nicht nur eine bloße Behinderung darstellen, sondern sich in physische Hindernisse umsetzen. Hierbei kommt es darauf an, dass die ersten Fahrzeuge in einem Stau die nachfolgenden blockieren, was gezielt als Mittel eingesetzt wird, um die Zufahrtsstraßen zu blockieren.
  • Ausführliche Besprechung: Die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs (BGH) besagt, dass der durch die ersten Kraftfahrzeuge ausgeübte Zwang als physisches Hindernis gilt, das die nachfolgenden Fahrzeuge blockiert. Das OLG Stuttgart bestätigt diese Sichtweise, indem es darauf hinweist, dass kein Grund besteht, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Der entscheidende Punkt ist, dass die Aktivisten die Fahrzeuge bewusst als Werkzeug einsetzen, um die Blockade zu verstärken. Diese Form der Nötigung wird als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen und ist somit strafbar.

Mittäterschaft bei der Blockade mehrerer Straßen

  • Kernaussage: Wenn mehrere Straßenblockaden einem gemeinsamen Tatplan folgen, muss jeder Beteiligte die Konsequenzen der Handlungen seiner Mitstreiter mittragen.
  • Ausführliche Besprechung: Das OLG stellt fest, dass die Angeklagte sich an einer gemeinschaftlich geplanten Aktion beteiligt hat, bei der mehrere Zufahrtswege blockiert wurden. Auch wenn an der von der Angeklagten selbst besetzten Sperre kein Stau entstand, muss sie sich die Auswirkungen der anderen Blockaden zurechnen lassen. Dies folgt aus der mittäterschaftlichen Beteiligung gemäß § 25 Abs. 2 StGB, da die Angeklagte bewusst Teil des Gesamtplans war. Damit haftet sie für alle durch die Blockade verursachten Folgen, unabhängig davon, ob sie selbst direkt beteiligt war oder nicht

Verwerflichkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB

  • Kernaussage: Die Beurteilung der Verwerflichkeit erfordert eine Einzelfallabwägung. Das Blockieren von Straßen kann auch ohne Gefährdung Dritter verwerflich sein, und eine Rechtfertigung durch Art. 8 GG oder zivilen Ungehorsam ist ausgeschlossen.
  • Ausführliche Besprechung: Das OLG betont, dass die Verwerflichkeit einer Handlung nicht nur vom Vorliegen einer konkreten Gefahr für Dritte abhängt, sondern auch durch eine umfassende Abwägung aller Umstände bestimmt wird. Hierbei spielen die Art und Dauer der Blockade, die Betroffenheit Dritter und die Alternativen zur Meinungsäußerung eine Rolle. Das Gericht führt aus, dass das Recht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG nicht das Recht umfasst, andere zu gefährden oder deren Rechte unverhältnismäßig zu beeinträchtigen. Zudem schließt das OLG eine Rechtfertigung nach § 34 StGB oder unter dem Aspekt des zivilen Ungehorsams aus, da solche Blockaden nicht als notwendig erachtet werden können

Hausfriedensbruch auf einem Flachdach

  • Kernaussage: Ein Flachdach einer Mehrzweckhalle, das ohne Aufstiegshilfe nicht zugänglich ist, gilt als befriedetes Besitztum im Sinne des § 123 Abs. 1 StGB.
  • Ausführliche Besprechung: Das OLG stellt klar, dass das Flachdach als Teil des Gebäudes ein befriedetes Besitztum darstellt. Obwohl das Landgericht dies verneint hatte, betont das OLG, dass das Dach durch seine bauliche Beschaffenheit vor unbefugtem Betreten geschützt ist. Das Fehlen eines regulären Zugangs und die Notwendigkeit einer Aufstiegshilfe reichen aus, um den Schutzbereich des § 123 StGB zu erfüllen. Damit liegt ein Hausfriedensbruch vor, wenn das Dach ohne Erlaubnis betreten wird

Fazit

Das Urteil des OLG Stuttgart ist eine präzise Anwendung bestehender Rechtsprechung auf aktuelle Formen des zivilen Ungehorsams. Es verdeutlicht, dass Protestaktionen, die in die Rechte Dritter eingreifen, klaren gesetzlichen Grenzen unterliegen. Insbesondere die Bestätigung der „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ und die Betonung der Mittäterschaft bei gemeinschaftlichen Aktionen machen deutlich, dass auch indirekte Auswirkungen solcher Proteste strafrechtlich relevant sein können. Zudem wird das Urteil durch eine genaue Auslegung des Hausfriedensbruchs abgerundet, was den Schutz des Eigentums und der öffentlichen Sicherheit weiter unterstreicht.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht)
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