Strafrechtliche Bewertung einer Straßenblockade durch sogenannte „Klimakleber“

Das Landgericht (LG) Berlin entschied am 31. Mai 2023 (Az.: 502 Qs 138/22) über die strafrechtliche Bewertung einer Straßenblockade durch sogenannte „Klimakleber“. Die Entscheidung betrifft insbesondere die Abwägung zwischen der Versammlungsfreiheit der Aktivisten und der Fortbewegungsfreiheit der betroffenen Verkehrsteilnehmer sowie die strafrechtliche Einordnung von Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte.

Hintergrund der Entscheidung

Der Angeschuldigte beteiligte sich am 30. Juni 2022 an einer Straßenblockade, bei der er sich mit anderen Aktivisten auf der Fahrbahn einer vielbefahrenen Ausfahrt der A100 in Berlin festklebte, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Die Aktion führte zu einem erheblichen Rückstau im morgendlichen Berufsverkehr. Die Polizei löste die Blockade auf und musste den Angeschuldigten unter Einsatz von Lösungsmitteln von der Fahrbahn entfernen. Gegen den Angeschuldigten wurde wegen Nötigung und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte ermittelt.

Kernaussagen des Urteils

  1. Straßenblockade und Verwerflichkeitsprüfung (§ 240 Abs. 2 StGB):
    Das LG Berlin bestätigte, dass eine Straßenblockade durch Festkleben auf der Fahrbahn Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB darstellt, da die Blockade zu einer physischen Behinderung der Verkehrsteilnehmer führt. Diese sogenannte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs (BGH) sieht vor, dass nicht nur die unmittelbaren Verkehrsteilnehmer, sondern auch die in nachfolgenden Reihen stehenden Fahrzeuge durch die Blockade gezwungen werden und somit Gewalt ausgeübt wird. Allerdings entschied das Gericht, dass die Tat im konkreten Fall nicht rechtswidrig ist, da die Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB zugunsten der Versammlungsfreiheit des Angeschuldigten ausfiel. Die Abwägung erfolgte zwischen dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und der Fortbewegungsfreiheit der Verkehrsteilnehmer (Art. 2 Abs. 2 GG). Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit des Angeschuldigten in diesem Fall überwiegt, da die Behinderung der Verkehrsteilnehmer nur von kurzer Dauer war und sich im Rahmen des sozial Adäquaten bewegte.
  2. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 1 StGB):
    Das Festkleben des Angeschuldigten auf der Fahrbahn wurde jedoch als strafbare Widerstandshandlung im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB bewertet. Das Gericht argumentierte, dass das Festkleben von vornherein darauf abzielte, die polizeiliche Räumung zu erschweren. Die durch das Auftragen des Sekundenklebers bewirkte Kraftäußerung führte dazu, dass die Polizei zunächst die Hand des Angeschuldigten von der Fahrbahn ablösen musste, was das Wegtragen verzögerte und erschwerte. Das Gericht stellte klar, dass der Angeschuldigte zumindest billigend in Kauf nahm, dass das Festkleben die Vollstreckungshandlung, nämlich das Verbringen von der Fahrbahn, erschweren würde. Dies erfüllte den Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Analyse der rechtlichen Aspekte

  1. Nötigung und Verwerflichkeitsprüfung:
    Die Entscheidung des LG Berlin zeigt, wie komplex die Abwägung zwischen den Grundrechten der Versammlungsfreiheit und der Fortbewegungsfreiheit in solchen Fällen ist. Das Gericht betonte, dass die Verwerflichkeitsprüfung im Einzelfall vorgenommen werden muss und dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut darstellt, das auch bei Aktionen, die zu Verkehrsbehinderungen führen, berücksichtigt werden muss. Diese Abwägung führt dazu, dass die Tat nicht als rechtswidrig angesehen wurde, obwohl sie den Tatbestand der Nötigung erfüllte.
  2. Widerstandshandlungen durch Festkleben:
    Die strafrechtliche Bewertung des Festklebens als Widerstandshandlung ist ein weiteres zentrales Element dieser Entscheidung. Das Gericht stellte fest, dass das Festkleben eine aktive Kraftäußerung darstellt, die darauf abzielt, die Vollstreckungshandlungen der Polizei zu erschweren. Dies führt zur Erfüllung des Tatbestandes des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, selbst wenn der Angeschuldigte das Festkleben primär als Mittel zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit genutzt haben sollte.

Fazit

Das Urteil des LG Berlin verdeutlicht die differenzierte Betrachtung von Straßenblockaden durch Klimaaktivisten im Strafrecht. Während die Versammlungsfreiheit in bestimmten Fällen überwiegen kann und somit eine Nötigung nicht rechtswidrig ist, bleibt das aktive Erschweren polizeilicher Maßnahmen durch Festkleben eine strafbare Handlung. Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung einer sorgfältigen Abwägung der betroffenen Grundrechte und zeigt die Grenzen des zivilen Ungehorsams auf, insbesondere wenn es um die Erschwerung von Vollstreckungsmaßnahmen geht.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht)
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